Monatsarchiv für Dezember 2012

 
 

Bilderwelten des Dokumentarischen: Zwischen Hoffnung und Restriktion – von Kerstin Stutterheim

Die in diesem Aufsatz betrachtete Periode ist von politischen Um- und Aufbrüchen sowie einer Vielfalt dokumentarischen Filmschaffens geprägt. Zeit-, Filmtechnik- und Dokumentarfilmgeschichte stehen stets in einem Wechselverhältnis, so auch in der Volksrepublik Polen zwischen 1969 und 1989. Traditionen werden im Filmschaffen fortgeführt, von einer neuen Generation von Filmemachern und Filmemacherinnen aufgegriffen und neue Herangehensweisen und Stile gewagt. Es werden kritische, ironische und intellektuelle Dokumentarfilme gedreht. Das Spektrum der Filme reicht vom eher journalistisch angelegten, über den beobachtenden bis hin zum poetischen Dokumentarfilm. Ein Merkmal der Filme bis Ende der 1960er Jahre stellte die Nutzung einer «Dramaturgie der Fakten» dar, wie sie Kazimierz Karabasz und Jerzy Bossak geprägt haben, weniger die psychologische Beobachtung. Ein weiterestradiertes Merkmal des polnischen Dokumentarfilms war die Verbindung der faktischen Beobachtung mit Reenactment oder fiktiven Sequenzen, um Ausschnitte der Wirklichkeit genauer darstellen zu können, als es mit reiner Beobachtung möglich wäre.

Künstlerische Objektivität und Wirklichkeitskunst

Einer der herausragenden Vertreter des hybriden Dokumentarfilms, der die Beobachtung mit inszenierten Sequenzen verstärkt, ist Marek Piwowski (geb. 1935). Als beispielhaft für sein Schaffen werden PSYCHODRAMA (1969, 28 min), KORKOCIĄG (Korkenzieher, 1971, 10 min) und HAIR (1973, 17 min) erwähnt. PSYCHODRAMA (28 min) wurde in einer Besserungsanstalt für Mädchen gedreht. Beobachtet werden Mädchen im Alter zwischen 10 und 15 Jahren, die eine Aufführung von Aschenputtel einstudieren. (…) Eine in ihrer grotesken Überzeichnung der Realität absolut glaubhaft wirkende Situation bildet das dramatische Gerüst für KORKENZIEHER (1971, 10 min) – das Reenactment eines Redners anlässlich des Jubiläums der Spirituosen-Industrie. Diese Rede, die wirkt, als würde sie auf einem Plenum der Kommunistischen Partei Polens oder einer anderen staatstragenden Situation gehalten werden, wird in Kontrast zu Bildern von schweren und schwerstabhängigen Alkoholikern gezeigt. (…) Mit seinem «unbestechlichen Blick für das Absurde von Erscheinungen, das er mit Ironie, mit Sarkasmus aufdeckt» , gibt er den Blick frei auf falsches Pathos und auf die Paradoxien des sozialistischen Alltags. So auch in HAIR (1971, 17 min); in diesem Film über einen internationalen Frisier-Wettbewerb wird das Geschehen genau beobachtet. Über die Montage paradoxer Situationen, dem Aufeinandertreffen politischer Phrasen auf Vorgänge, die sich dieser politischen Intention aufs Amüsanteste entziehen, entfaltet dieser Film seine Wirkung. «Wir frisieren für den Frieden» steht auf einem riesigen Transparent, das an der Wand im Hintergrund über dem Ort des Geschehens hängt. Gezeigt werden Eitelkeiten aller Art, Langeweile und Anspannung, aber auch kleine alltägliche Momentaufnahmen. Durch die kommentarlose, aber genaue Beobachtung der Selbstdarstellung, der Eitelkeiten und Rituale der verschiedenen Friseur-Teams tritt in der Montage die Banalität wie auch die Spannung des Wettbewerbs zu Tage und reibt sich so mit der politischen Phrase, die unübersehbar über allem schwebt. (…) Der Film ist auch in seiner ironischen Form ein Synonym von Ritualen und Zeremonien.

Hoffnung auf Erneuerung

Nach den im Dezember 1970 blutig niedergeschlagenen Streiks auf den Werften von Danzig, Gdingen und Stettin musste der bisherige 1. ZK-Sekretär Władysław Gomułka alle seine Ämter niederlegen. Die neue Führungsmannschaft um Edward Gierek versprach eine Verbesserung der Lebensverhältnisse und politische Reformen. Mit Hilfe westlicher Kredite konnten für kurze Zeit die Lebensverhältnisse und vor allem die Versorgungslage etwas verbessert werden. Dies weckte in der Bevölkerung die Hoffnung, dass auch die politischen Restriktionen geringer werden würden. Man sprach auf dem Dokumentarfilmfestival in Krakau 1971 vom «ersten Halbjahr der Erneuerung» . Direkt nach dem Wechsel in der Partei- und Regierungsspitze wurde 1971 das Dokumentarfilmstudio WFD durch das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Polens beauftragt, mit einem Film «die authentische Stimmung der führenden gesellschaftlichen Klasse einzufangen» . Die Studioleitung hatte wegen der noch nicht absehbaren Dimension der tatsächlichen oder nur erhofften Veränderungen im Parteiapparat nach dem Regierungswechsel die jungen Regisseure Krzysztof Kieślowski und Tomasz Zygadło mit dieser Aufgabe betraut. ROBOTNICY ’71: NIC O NAS BEZ NAS (Arbeiter ’71) besteht aus mehreren Episoden, die eine Verdichtung der Beobachtungen um die Bemühungen der Arbeiter und Arbeiterinnen um einen politischen Neustart ermöglichen. Gedreht wurde in mehreren Städten und Werken. Die Regisseure enthalten sich jeden Kommentars, doch auch in diesem Film werden Beobachtungen und Originaltöne mit inszenierten Szenen montiert. Kieślowski und Zygadło wollten «untersuchen, was der Arbeiter am Vorabend des Parteitages, der ein Umdenken verspricht, im Jahr nach dem blutigen Dezember, denkt und sagt.» Regie-Assistenten, Regie-Kollegen und Laiendarsteller spielen Arbeiter, um die Wirklichkeit zu verdichten. Man sieht und spürt auch in diesem Film in jeder Sequenz nach wie vor den Kontrast zwischen den Vertretern der Staatsmacht und denen, die mit dem Alltag und den politischen Zuständen ringen. Dieser Film wurde zunächst von der Zensur verboten, dann ohne Beteiligung der Regisseure zu GOSPODARZE (Die Gastgeber) umgeschnitten, wobei die ursprüngliche sehr kritische bis provokative Aussage in ihr Gegenteil verkehrt wurde. (…)

Der beobachtende Dokumentarfilm

Krzysztof Kieślowski sagt von sich, dass er immer ein Beobachter war, sich abseits gestellt hat und vor allem die Wahrheit der Wirklichkeit zeigen wollte. «Die Welt beschreiben», war die Devise, nach der Kieślowski und andere Filmemacher/innen die sie umgebende Welt von den «Verzerrungen totaler ideologischer Fiktion» befreien wollten. Neben den Vorbildern im eigenen Land war Kieślowski vom Direct Cinema beeinflusst, insbesondere Frederick Wiseman wurde ihm ein Vorbild. Erwähnt sei hier der 1970 gedrehte Film FABRYKA (DIE FABRIK) (17 min), in dem Kieślowski den Wiederspruch zwischen der immer wieder kehrenden, emotionslosen und stoischen Proklamierung von Planvorgaben im Kontrast zu dem tagtäglichen kräftezehrenden Einsatz der Arbeiter gegen existentielle Versorgungsengpässe als dramaturgische Konstellation nutzt. Entsprechend dieser Intention arbeitet er auch in PIERWSZA MIŁOŚĆ (ERSTE LIEBE, 1974, 52 min). Ihn interessierte die Frage danach, wie man lebt und wie es gelingt, den Alltag in Polen zu bewältigen. Er wollte darstellen, wie weit der Staat in das Leben und die Liebe von Menschen eingreift und diese zusätzlich erschwert. (…) Kommentiert wird das Geschehen nur durch die Gestaltung, die Montage und die Tonebene. Sparsam eingesetzte Musik ergänzt oder ersetzt Gesagtes und Nichtgesagtes. So eröffnet diese Parabel einen Blick in das Leben und die Ästhetik der Zeit. Haben sich die Schwestern und der Arzt, während Jadwiga in den Wehen lag, über die schwierigen Zustände in der Klinik unterhalten, so werden uns diese in SZPITAL (KRANKENHAUS, 1976) konkret vor Augen geführt. Beobachtet und begleitet werden Ärzte der Rettungsstation und der Unfallchirurgie einer Klinik in Warschau. Über die Ereignisse, die sich während eines 31-Stunden- Schicht ereignen, erzählt Kieślowski in kleinen Episoden von den Unbilden des Alltags. Mit dieser Brennglasfunktion und übt er massive Kritik an den Zuständen. (…) Doch auch die Menschen, die zum Apparat gehören, waren von den Entwicklungen und deren Einfluss auf ihr eigenes Schicksal nicht verschont, wie Kieślowski in dem 1975 gedrehten Film ŻYCIORYS (LEBENSLAUF 1975, 45 min) zeigt. Der Film ist ästhetisch wie dramaturgisch sehr verdichtet. (…) 1978 dreht Kieślowski SIEDEM KOBIET W RÓŻNYM WIEKU (SIEBEN FRAUEN VERSCHIEDENEN ALTERS; 1979, 16 min), einen Reigen über die Vergänglichkeit von physischer Kraft und dem Leben, aber auch von der Erfüllung dessen am Beispiel von sieben Balletttänzerinnen unterschiedlichen Alters, die einander ablösen oder Abschnitte eines Lebens darstellen. Auch hier sind Disziplinierung und Gruppendynamik zentral, aber andererseits scheinen die Frauen auch die Rollen zu tauschen und so den Kreislauf des Lebens abzubilden. In GADAJĄCE GŁOWY (SPRECHENDE KÖPFE, 1980, 16 min) fragt Kieślowski nach den Wünschen der Menschen – (…) Das Private spiegelt in seinen Filmen immer das Gesellschaftliche, so auch hier. In der Kompensierung von Selbstbeschreibung, Hoffnungen und Träumen, Kritik und Selbstbescheidung zeichnet sich der Zustand der Gesellschaft ab, aufgezeichnet in einer an Fernsehumfragen orientierten Ästhetik.

Mit DWORZEC (BAHNHOF, 1980, 14 min) dreht Kieślowski seinen für viele Jahre letzten Dokumentarfilm. Über ein Fernsehgerät in der Bahnhofshalle werden Erfolgsmeldungen über die Politik Edward Giereks und die wirtschaftspolitische Lage verkündet. Doch der Bahnhof und die Menschen dort lassen uns Tristesse und Ermüdung sehen. Menschen schauen auf die Anzeigetafel der heillos verspäteten Züge und warten. Nichts funktioniert – außer den Überwachungskameras, die nicht nur die Bahnsteigkante überwachen, sondern sich immer wieder neu ausrichten, um die Wartenden zu beobachten. Die Filmkamera greift in der Beobachtung des Geschehens auf dem Bahnhof immer wieder die Perspektive dieser Überwachungskameras auf. So entsteht ein beklemmendes Gefühl. Am Schluss des Filmes wird der Mann gezeigt, der die Überwachungskameras und die Aufnahmen steuert, es wirkt ein wenig wie die Live-Regie einer Fernsehaufzeichnung. Zwei Realitäten prallen aufeinander. (…)

Spiel und Wirklichkeit als Mittel der Demaskierung

Marcel Łoziński setzt im Stil des Cinema Verité mit provozierenden Fragen und Interventionen Situationen in Bewegung, wobei er gelegentlich auch Formen von Reenactment und eine Mischung aus Inszenierung und dokumentarischem Arbeiten nutzt. (…) Mit seinem Debüt im Dokumentarfilmstudio Warschau (WFD), HAPPY END (1973, 16 min), drehte er «eine Versuchsanordnung über totalitäre Verhaltensnormen.» Das kurze Dokudrama geht von einer realen Situation einer kollektiven Anklage vermeintlich unzureichend arbeitender Kollegen aus. Łoziński arbeitet zum Teil mit Laiendarstellern, um eine analoge Situation in ihrem Verlauf dokumentieren zu können, ohne dass die Beteiligten dieser Situation all den dort verhandelten Konsequenzen ausgesetzt wären. Mit der in HAPPY END dargestellten exemplarischen Szene spiegelt Łoziński einerseits sich tatsächlich ereignende Verfahren aus Industriebetrieben, andererseits ist dieser Film auch eine Metapher auf die antisemitischen Verfolgungen 1968. Alle gegen einen – ein gemeinsames überhöhtes Feindbild wird wirksam offeriert, an dem kollektiv alle Vorurteile, Hassgefühle, Nichtigkeiten und Kleingeist-Gemeinheiten abgearbeitet werden. Dabei ist es kammerspielartig auf die Interaktion weniger Personen innerhalb einer größeren Menge konzentriert, auch wenn es sich um eine verhältnismäßig öffentliche Situation in einer größeren Gruppe handelt. Aus dieser kammerspielartigen Konzentration vor Publikum erhält der Film seine Spannung. Der Kontrast besteht wie im antiken Theater aus dem Konflikt zwischen dem Einzelnen und der Masse, die durch einige wenige Stimmen repräsentiert wird und den Kreis um den Auszuschließenden und zu Verurteilenden immer enger zieht. (…) In WIZYTA (DER BESUCH, 1974) zum Beispiel erzählt er von der rücksichtslosen Vorgehensweise eines Reporterteams gegenüber einer selbstbestimmt und unabhängig lebenden Bäuerin. (…) Mit seinem dokumentarischen Spielfilm JAK ŻYĆ (WIE SOLL MAN LEBEN, 1977) erzählt Łoziński von einem Gruppen-Schulungsurlaub in einem Camp der «sozialistischen Jugend». Erzählt wird eine real wirkende Geschichte eines Wettbewerbs um die «beste Familie» und die als Preis versprochene vollautomatische Waschmaschine, die sich am Ende in ein Tonband verwandelt. (…) In Łozińskis EGZAMIN DOJRZAŁOŚCI (DIE REIFEPRÜFUNG,1979, 16 min) wird erneut die Diskrepanz zwischen propagandistischen Phrasen und der Realität offenkundig, (…) Herausragend und hier unbedingt zu erwähnen ist Łozińskis PRÓBA MIKROFONU (DIE MIKROFONPROBE, 1979, 19 min). (…) Auf dem Filmfestival in Krakau wurde der Film mit dem Hauptpreis, dem Fipresci-Preis und dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichnet. (…)

Das Auge des Dokumentarfilms

Getragen werden die Filme von Kieślowski und Łoziński von einem besonderen Blick auf die Wirklichkeit, von der Kunst, diese in bewegte und bewegende Bilder zu fassen. Die Kameraarbeit spielte vor allem in der Zeit, in der noch auf Film belichtet wurde, eine herausragende Rolle . Was der Regisseur oder die Regisseurin im Sinn hatte, wurde vom Kameramann in Bilder übersetzt. Er schaut auf das Geschehen und muss darauf reagieren, das Geschehen durch den Sucher im Blick behalten und die entscheidenden Momente einfangen, dabei die Montage bereits antizipierend. Beispielhaft seien daher an dieser Stelle – auch stellvertretend für die hier nicht aufgeführten – die Kameramänner Jacek Petrycki (geboren 1948) und Jerzy Zieliński (geb. 1950) genannt. (…) Sein Blick und seine Kunst, das Geschehen in intensive Bilder zu fassen, gibt den Filmen ihre Dichte und Wirkung. Denn sie, die Kamerapersonen, lassen die physische Realität als zweite, anverwandelte Realität sichtbar werden, indem sie schöne Bilder dreht. „Die Rede von einem schönen Bild meint alles, nur kein schönes Bild; es kann ein logisches, einfaches dramaturgisch richtiges, pointiertes, passendes, distanziertes, wesentliches Bild und vieles mehr sein.“ Die Sinnbildlungskapazitäten sind im Prozess der Herstellung der Bilder ebensowenig von der Sinnlichkeit zu trennen , wie in der Rezeption. Auf der Basis der Verständigung zwischen Regisseur_in und Kameraperson obliegt es dieser dann, das Anliegen sinnlich bildhaft werden zu lassen. Dieses ist Kameramännern wie Jacek Petrycki stilbildend gelungen.

Der inszenierte Dokumentarfilm

Einer der wichtigsten Vertreter des inszenierten Dokumentarfilms ist Wojciech Wiszniewski (1946-1981), seine bekanntesten Filme sind ELEMENTARZ (DIE FIBEL, 1976, 9 min) und STOLARZ (DER TISCHLER 1976, 13 min). (…)

Ein Augenblick von Freiheit

Die Streiks, die sich ab August 1980 ausgehend von Danziger Werft auf über 500 Betriebe ausweiteten, weckten neue Hoffnungen auf politische Veränderungen. Diese revolutionären Ereignisse wurden in ROBOTNICY ’80 (ARBEITER ’80) von Michał Bukojemski, Andrzej Zajączkowski und Andrzej Chodakowski eingefangen. (…) Dem Hochgefühl der erkämpften Freiheit entsprechend werden auf dem Festival auch vier bis dahin verbotenen Filme gezeigt: ROBOTNICE (DIE ARBEITERINNEN, 1979, 14 min) von Irena Kamieńska, DIE MIKROFONPROBE und DIE REIFEPRÜFUNG/81, 16 min von Marcel Łoziński sowie LEKCJA WŁADZY (LEKTION DER MACHT, 1979, 19 min) von Anna Górna und Ludomir Zając. (…)

Die Stimmen der Frauen

Seit den späten 1960er Jahren drehten auch und mehr Frauen Dokumentarfilme, die zumeist auch den Blick stärker auf das Leben von Frauen richteten. Im Verhältnis zum DEFA-Film dieser Zeit zum Beispiel ist der polnische Dokumentarfilm von erstaunlich vielen Regisseurinnen und ihren Filmen geprägt. Krystyna Gryczełowska (1930-2009) zum Beispiel drehte 1970 NASZE ZNAJOME Z ŁODZI (UNSERE BEKANNTE AUS ŁÓDŹ, 16 min). Dieser Film blickt in das Leben von drei Frauen unterschiedlichen Alters, die in der Textilfabrik in Łódź schuften und durch die Montage zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. (…) Zuvor hat sie vorrangig dokumentarische Kurzfilme über das Leben der Menschen auf dem Land gedreht – Wola Rafałowska (1966), Wtorki, czwartki i soboty (Dienstags, donnerstags und samstags, 1965), 24 godziny Jadwigi L. (24 Stunden aus dem Leben der Jadwiga L., 1967), sowie Nazywa się Błażej Rejdak (Er heißt Błazej Rejdak, 1968) und Zawsze rodzi się chleb (Immer wächst Korn, 1969). Mit ihrem Film … w lutym 1971 (… im Februar 1971, 1971), wollte sie einen kleinen Ausschnitt der neuen Zeit, der kurzen Phase «nach der Schlacht» zeigen, von der man sich einen tatsächlichen Wandel erhofft hat. Auch dieser Film ist sparsam beobachtend und auf das Wesentliche konzentriert. (…) Einen anderen Ausschnitt der Wirklichkeit wählt Danuta Halladin, die im Stil des Direct Cinema arbeitet. Sie zeigt uns in RODZINA (DIE FAMILIE, 1971) ein privates Familien-Erziehungsheim , heute würde man es als Pflege- oder Adoptivfamilie bezeichnen. Die von einem Ehepaar aufgenommenen Kinder kommen alle aus schwierigen Verhältnissen. Während Situationen des Alltags der 14 Kinder und Jugendlichen beobachtet werden, erzählt die Mutter über ihre Motivation und über ihre Liebe zu den Kindern, aber auch über die ökonomisch schwierige Situation. In ihrem 1972 gedrehten Film WEJŚĆ MIĘDZY LUDZI (UNTER MENSCHEN KOMMEN, 1972) spiegelt sich die Hoffnung auf einen Neuanfang und verbesserte politisch-soziale Verhältnisse. 1972 hatte das Parlament eine Verfassungsänderung beschlossen, wonach der Vertreter der Selbstverwaltung der Bauern wie der Vertreter des Staates ein und dieselbe Person sein darf. Der in diesem Film porträtierte neue Gemeinderat packt an, redet mit den Leuten, drängt sie auch, wo es nötig ist. (…) Einen anders gelagerten Einblick in die Lebenswelt Mitte der 1970er Jahre gibt Danuta Halladin mit ihrem Film PRÓG (SCHWELLE, 1975). Erzählt wird ebenfalls im Stil des Direct Cinema über eine Sonderschule für schwer- und schwerstbehinderte Kinder. (…) Die Ignoranz der regierenden Partei gegenüber den einfachen Menschen Mitte der 1970er Jahre führt Irena Kamieńska in ihrem 1976 gedrehten Film ZAPORA (DAMM) deutlich vor. Der Kontrast von Partei(sprache) und der Sprache der Menschen, die von der geplanten Flutung eines Dorfes betroffen sind, vermittelt hier in einem Aufeinandertreffen von Reden, die den jeweils anderen nicht erreichen, die Spannung. Wenig später erzählt sie in ihrem Film PIĘKNA, MROŹNA POLSKA ZIMA (EIN WUNDERBARER, FROSTIGER POLNISCHER WINTER, 1978) von skrupellosen «neuen Polen» und der sozialen Kälte der späten 1970er Jahre. 1980 widmet sich Irena Kamieńska in ARBEITERINNEN den Arbeitsbedingungen der Weberinnen in Krosno. Die Textilfabrik wirkt in den Aufnahmen, als wäre hier seit dem 19. Jahrhundert nichts verändert worden. (…) Auch dieser Film wurde zunächst verboten und erst 1981 uraufgeführt.

Die grauen Jahre

Im Dezember 1981 wurde das Kriegsrecht verkündet, die Gewerkschaft Solidarność verboten und für die Filmemacher beginnt eine Zeit der Restriktionen. Einige Regisseure verließen Polen und arbeiteten von nun an nahezu ausschließlich im Ausland, wie zum Beispiel Marek Piwowski, der 1984 in die USA ging. Die Filme der Jahre nach 1980 waren geprägt von den jüngsten Erfahrungen – in den immer noch kritischen dokumentarischen Filmen wichen die Angriffslust und der Zorn der 1970er Jahre nun eher pessimistischen oder messerscharf ironischen Beobachtungen einer paradoxen Welt. Maria Zmarz-Koczanowicz (geb. 1954) zum Beispiel wendet sich in ihren in den 1980er Jahren gedrehten Dokumentarfilmen mit Ironie und einer experimentellen Form der Reflektion ausgewählter Ausschnitte der Wirklichkeit zu. So erzählt KAŻDY WIE KTO ZA KIM STOI (JEDER WEIß, WER HINTER WEM STEHT, 1983, 6 min) vom unendlichen Anstehen. (…) Wie stark diese Jahre des Kriegsrechts die Menschen mitgenommen haben, zeigt Marcel Łoziński in seinem Film ĆWICZENIA WARSZTATOWE (WERKSTATTÜBUNGEN, 1984). Auch hier nutzt er die Mittel des dokumentarischen Films erneut, um sich mit Propaganda und Manipulation auseinanderzusetzen. (…) Charakteristisch für die 1980er Jahre des Dokumentarfilmschaffens wurden auch Filme, in denen sich konkrete Biographien und Geschichte berührten , wie in STADION, CZYLI ŻYWOT JÓZEFA (DAS STADION, 1986) von Ireneusz Engler oder ŁÓDZKI ŻYCIORYS (LEBENSLAUF AUS ŁÓDŹ, 1984) von Danuta Halladin, der hier beispielhaft für diese Filme angeführt wird (…) Vergleichbar ist DZIEŃ ZA DNIEM (TAG FÜR TAG, 1988, 16 min) zu sehen. In diesem Film erzählt Irena Kamieńska die Lebensgeschichte zweier Frauen, die wie ikonographische Zeichen der letzten Jahre und des bevorstehenden Zusammenbruchs des ausgemergelten Körpers der Volksrepublik wirken. (…) Mit scharfer Ironie gestaltet Maria Zmarz-Koczanowicz ihre Filme. So erzählt sie in JESTEM MĘŻCZYZNĄ (ICH BIN EIN MANN, 1985, 16 min) die exemplarische Geschichte von einem außerordentlich machtbewussten, sich totalitär gebenden kleinen Mann. (…) Dramatischer und existentieller ist der Ausschnitt der Wirklichkeit, den Maria Zmarz-Koczanowicz in URZĄD (DIE BEHÖRDE, 17 min, 1986) zeigt. (…) Ebenfalls in Wrocław drehten die Regisseurinnen Danuta Halladin und Lidia Zonn 1987 mit ODCHODZĄCE ŚLADY – CROCŁAW 1945 (SPUREN, DIE VERSCHWINDEN) einen Film darüber, «wie nach 1945 aus einer deutschen Stadt eine polnische gemacht wurde». Den historischen Wurzeln der Gegenwart wandte sich ebenfalls Marcel Łoziński in seinem Film ŚWIADKOWIE (DIE ZEUGEN) zu. Ihn beschäftigte das Schicksal der polnischen Juden, möglicherweise weil er selber in Paris als Kind polnisch-jüdischer Emigranten zur Welt kam. Ohne jede Genehmigung drehte er 1987 auf Super-8-Material diesen Film über die Umstände eines Pogroms, bei dem 1946 in Kielce 150 Holocaust-Überlende umgebracht wurden. Dafür erhielt er den Grand Prix Solidaritate auf dem Festival INPUT in Stockholm. Auch Krzysztof Kieślowski drehte 1988, nun im Auftrag einer niederländischen Produktionsfirma, wieder einen dokumentarischen Kurzfilm. In SIEDEM DNI W TYGODNIU (SIEBEN TAGE IN DER WOCHE) begleitet er an jedem Tag der Woche eine andere, einsam wirkende Person, bis diese Personen sich alle am Sonntag gemeinsam zum Frühstück begegnen und sich so herausstellt, dass es sich um Mitglieder einer Familie handelt. Die Wirklichkeit spiegeln und verdichten, die Mittel der Filmsprache bestmöglich zu nutzen, um den Menschen eine Stimme zu geben, das zeichnet das polnische Dokumentarfilmschaffen dieser Periode aus, wobei es sich überwiegend um Kurzfilme handelt. Beschränkungen durch Zensur und Vorschriften, Überwachung und Ausgrenzung ließen die Filmemacher_innen immer wieder kreative und auch neue Wege für die Abbildung der Wirklichkeit finden, um ihrer Verzweiflung, ihrem Zorn, aber auch ihrer Empathie und gelegentlich einer kleinen Hoffnung Ausdruck zu verleihen. Die Handschriften sind so vielfältig wie die Themen. Als Chronist_innen und Rebell_innen haben sie in ihren Dokumentarfilmen von Schicksalen und Ängsten, von Hoffnungen und Pressionen, vom Zustand der Gesellschaft erzählt. Mit der spezifischen Stilistik, die sich in dieser Periode weiter entwickelt hat, beeinflussten sie wiederum Filmemacher anderenorts

Dr. Kerstin Stutterheim

Bei dem Text handelt es sich um eine Kurzfassung des in DER POLNISCHE FILM hg. von KONRAD KLEJSA, SCHAMMA SCHAHADAT, MARGARETE WACH, 562 S.  im September 2012 erschienen Aufsatzes. ISBN 978-3-89472-748-2  / Klappbr., 38,00 €

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Zitat des Monats – Albrecht Koschorke

„Wer (deshalb) vom homo narras spricht, denkt den Menschen in seinem Vermögen, von der Wirklichkeit, in der er lebt, sowohl ja als auch nein sagen zu können; moralisch gewendet, zu lügen; oder genauer, in der Fähigkeit, die Differenz zwischen real und irreal, wahr und falsch auszusetzen, aufzuheben, mit ihr zu spielen. Tatsächlich sind Erzählungen in einem gewissen Sinn Erzählspiele – regelgeleitet, mit unter Umständen großen Einsätzen, aber innerhalb des gegebenen Regelsystems in den meisten Spielzügen frei.“

In: Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie. S.Fischer Verlag 2012, Seite 12