Architektur und Dramaturgie, zu Heinz Emigholz‘ PARABETON – PIER LUIGI NERVI UND RÖMISCHER BETON

von Christine Lang


Die Architekturfilme von Heinz Emigholz aus der Reihe „Photographie und jenseits“ transponieren die architektonische Raumerfahrung in eine dem Medium Film eigene Seherfahrung. Architektur wird hier nicht skulptural, tableau- und objekthaft in Szene gesetzt, sondern dem forschenden Blick einer anthropomorphen Filmkamera unterzogen. Dabei wird reziprok der Blick thematisiert, für den die architektonischen Räume und Gebäude sich entwerfen, und damit geht es um Rezeptionsästhetik und Dramaturgie, also dem in der Architektur implizierten Betrachter.

Geschichtsschreibung

Der Film „Parabeton – Pier Luigi Nervi und Römischer Beton“ steht (fast) am Ende einer langen Reihe von Architekturfilmen, die Emigholz seit den frühen 90er Jahren realisiert.[2] Der Film beginnt mit Bildern einem der ältesten, aus dem ersten Jahrhundert n.C. stammenden noch existierenden Kuppelbauten aus römischem Zement in Baiae bei Neapel. Dieses Gebäude mit einem fließend-runden Zement-Dach wirkt geradezu so modern wie ein Bauwerk der organischen Architektur des 20. Jahrhunderts und erscheint mit dieser Modernität aus der üblicherweise als linear fortschreitend dargestellten zeitlichen Abfolge der Architekturepochen gefallen. Für Emigholz war eben diese unkontinuierliche Entwicklungsgeschichte des Zements (eben dem „römischen Beton“) bis zum modernen Beton mit einer nahezu zweitausendjähriger Pause der Nutzung von Zement, ein Anstoß, diese Bauten visuell evident mit denen von Pier Luigi Nervi (1891-1979) in Beziehung zu setzen und bisher selten behandelte ästhetische Bezüge herzustellen.[3]

Tempio di Giove Anxur, Tempio di Giove Anxur

Tempio di Giove Anxur, Tempio di Giove Anxur (Quelle: www.pym.de)

Der Film betreibt nicht nur eine originelle Geschichtsschreibung, sondern eröffnet insgesamt einen Diskurs über die Geschichte der architektonischen Moderne: Indem er nacheinander siebzehn Bauwerke des italienischen Bauingenieurs der Moderne betrachtet und präsentiert, zeigt er vor allem auch ihren heutigen Zustand. Über Architektur, als eine Art materieller Ausdruck der Gesellschaft, die sie errichtet und der, die mit ihr umgeht und bewahrt, lässt sich Herrschaftsgeschichte ergründen. So ergibt die Kontrastierung von Bildern des Palast der Arbeit (erbaut 1961) und bald darauffolgend denen der Päpstlichen Audienzhalle in Rom Vatikanstadt (erbaut 1971) eine interessante Sozial- und Hegemoniegeschichte: Der Palast der Arbeit ist ein verlassener, ungenutzter Ort, in dem Gerümpel und eine tote Katze auf dem Boden liegen, während die Päpstliche Audienzhalle von einem probenden Orchester bespielt wird und sichtbar mit viel Aufwand gepflegt und erhalten wird. Eine zweites Narrativ tut sich in dem Vergleich zweier anderer Schauplätze auf: Während die römischen Ruinen von Touristenmassen besucht werden, sind Nervis Industriebauten größtenteils dem Verfall ausgeliefert.

Nervi, Municipal Stadium

Nervi, Municipal Stadium (Quelle: www.pym.de)

Ästhetik

Der Film reiht statische Einstellungen aneinander. Meistens stehen sie nur einige Sekunden, manchmal länger, je nachdem wie hoch die subjektive Wahrnehmung des Filmemachers die Informationsfülle eines Bildes einschätzt. Es handelt sich dabei um eine ambitionierte Kadrage, die ein besonders ausgeprägtes Bildgefühl vermittelt. Die einzelnen Einstellungen beziehen sich in ihrer Komposition aufeinander: Die Bilder stehen im Austausch miteinander, es werden ästhetische Elemente aufgegriffen, variiert oder mit anderen kontrastiert. Die Bildkompositionen entfalten auf diese Art nicht nur ihre visuelle sondern auch eine semantische Wirkung. Die Kamera betrachtet die Architektur stellvertretend für den sie um- und durchschreitenden Betrachter, der sich einmal einen Überblick über ein Gebäude verschafft, dann an Elemente herantritt, um einen Schritt beiseite zu treten, um das gleiche Element aus einer leicht verschobenen Perspektive nochmals zu betrachten, der mal den Kopf schief legt und der wieder Abstand vom Objekt nimmt.

Dass es keine Kamerabewegungen gibt, mag für den ersten, den an eine eher konventionelle Kameraästhetik gewöhnten Blick statisch wirken. Dessen Wirkungsweise und Formgeschlossenheit entwirft sich aber spätestens auf den zweiten Blick: „Parabeton“ kann als eine Antwort auf die Frage verstanden werden, wie man Räume filmisch abbilden und etablieren kann. Zooms, Schwenks und Fahrten haben sich in der Filmsprache als symbolische Zeichen für die Nachahmung der menschlichen Wahrnehmung etabliert, aber dieser Film zeigt, dass es vielmehr der dezidiert fokussierte Blick ist, der diesem Anliegen angemessen ist. „Parabeton“ setzt so auf die Stärke des Mediums Film, die darin liegt, sich an die Imaginationsfähigkeit des Rezipienten zu adressieren und weniger darin, dreidimensionale Raumerlebnisse zu imitieren. Emigholz geht in seiner filmischen Arbeit von der Prämisse aus, dass Film als Medium der Zeit im Wesen semantisch ist, und dass das Raumerlebnis im Film vom Zuschauer imaginativ hergestellt wird. Seine „Bild-Kaskaden“ (ein Begriff der im Berlinale-Podiumsgespräch aus dem Publikum aufkam) beziehen eben diese Eigenleistung und imaginative Teilhabe der Zuschauer ein. Die Bilder des Films überlagern sich und werden – vielleicht durch die latente Überforderung, die durch die Kombination von Stillstand und Rasanz entsteht – zu Erinnerungsbildern mit Nachwirkung.

Emigholz arbeitet dokumentarisch, er nimmt die Gegebenheiten auf, wie sie sich zum Zeitpunkt des Drehs ergeben. Das gilt sowohl für die Bilder als auch für den Ton, wenngleich es sich nicht um Synchronton handelt. Die Bilder verbinden sich über die akustische Ebene eines fortlaufenden atmosphärischen Tons, der die Bilder temporalisiert und ein zeitliches Kontinuum herstellt. Emigholz unternimmt so eine akustische Beschreibungen der gezeigten Orte, mal hört man Vogelgezwitscher, mal Stadtrauschen, Autos, mal ein Gewitter, mal entfernte Stimmen. Der Ton fügt den Bildern so nicht nur einen zeitlichen, sondern auch einen räumlichen Mehrwert hinzu, den der Film braucht, um dokumentarisch und nicht formalästhetisch zu wirken.

Künstlerische Forschung

Durch die beschriebene ikonographische Herangehensweise wird der Wahrnehmungsmodus des Betrachtens ins Filmische hinein verdoppelt. Emigholz verwandelt reale Räume in imaginäre. Er betreibt so eine Art künstlerischer Forschung, indem er mit den Mitteln des Films und der Filmsprache die Visualität der Architektur erforscht. Seine Bilder untersuchen die bildlichen Entwürfe und die intendierten Betrachterperspektiven – sozusagen die Dramaturgie der Architektur – und sie stellen über den filmisch reproduzierten Sehakt einen Erkenntnisgewinn her, der durch eine rein wissenschaftliche Forschung nicht hervorzubringen wäre. Die Umkodierung eines künstlerischen Systems in ein anderes mittransportiert demgegenüber eben jene Mehrinformation, die nur im „künstlerischen Text“ möglich ist. „Parabeton“ ist gewissermaßen der künstlerische Beleg für Juri Lotmans These, dass ein künstlerisches Modell immer reichhaltiger und lebendiger als seine Interpretation ist, da, wie er schreibt, jegliche Interpretation immer nur approximativ wäre.[4]


 

[1] Über diesen aus der Literatur- und Kunstwissenschaft übernommenen Interpretationszugang siehe: „Wege zu einer Rezeptionsästhetik in der Architektur: Das implizite Leben der gebauten Umwelt“ www.tucottbus.de/wolkenkuckucksheim/inhalt/de/heft/ausgaben/207/Lippert-Vieira/lippert-vieira.php

[2] Auf der Podiumsdiskussion im Berlinale Forum, in dem der Film im Februar 2012 seine Premiere feierte, bemerkte Heinz Emigholz, dass das voraussichtliche Ende seiner Architekurfilmreihe auch mit dem Umstand zu tun habe, dass an Architektur der Moderne zunehmend Bildrechte existieren und als Geldeinnahmequelle vor allem von Stiftungen und Foundations wahrgenommen werden würden. Diese Entwicklung sei eine für den Dokumentarfilm insgesamt durchaus bedrohliche (und darüberhinaus für Emigholz ein Grund, Filme künftig im Studio drehen zu wollen…).

[3] Mehr zu dem Film auf der Webseite von Heinz Emigholz: www.pym.de

[4] Lotman, Juri: Kunst als modellbildendes System. In: Kunst als Sprache. Reclam Leipzig, 1981 (S. 83)

 


 
 
 

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