Monatsarchiv für Mai 2014

 
 

Streifzug durch die Geschichte des brasilianischen Films aus Bahia, Teil 2

Pátio – Experimentalfilm von Glauber Rocha, schwarzweiß, 16 mm, 13 min

Die Titel laufen auf einem schwarz-weiß-Muster, dass an ein Schachbrett erinnert. Aus einem Sirenenton entwickelt sich konkrete Musik, die sich im verlauf des Films mit stummen Einstellungen abwechselt. Ein Hof, mit schwarz-weißen Bodenfliesen ausgelegt. Ein Spielbrett – ein Paar. Der Ozean liegt tief unter ihnen, Bananenpflanzen auf dem steilen Hang, auf der anderen Seite eine Mauer – letztendlich eine Treppe.

Ein Spiel von Nähe und Distanz, Enge und Ferne. Aufgenommen in zum Teil extremen Einstellungen. Der Hof repräsentiert einen Ort der Erinnerungen als auch der Gefühle. Die Frau und der Mann sind Menschen und Figuren gleichermaßen, menschlich und abstrakt, sie träumen, reagieren und agieren gleichermaßen. Gesten ersetzen den gesprochenen Dialog.  Die Montage verdichtet die Einstellungen zu visuellen Zeichen. Hans Richters ‚Vormittagsspuk’ und Sergej Eisensteins dialektische Montage münden in eine poetische Phantasie über ein Paar in der Mittagsstunde.

Dies war die erste Regiearbeit von Glauber Rocha. ‚Pátio‘ wurde als brasilianischer Kunst-Avantgarde-Film wahrgenommen, der für die Herausbildung des Cinema Novo einen wichtigen Beitrag leistete und im Kontext der Bewegung des Tropicalismo zu verstehen ist. Mit dieser radikal poetischen Gestaltung wollte Rocha ein ästhetisches als politisches Zeichen setzen.

Buch und Regie: Glauber Rocha / Produktion: Luiz Paulino dos Santos und Glauber Rocha

Kamera: José Ribamar de Almeida und Luiz Paulino dos Santos / Montage: Souza Junior

Darsteller: Sólon Barreto und Helena Ignez

Text:  Kerstin Stutterheim

Streifzug durch die Geschichte des brasilianischen Films aus Bahia, Teil 1 – von Kerstin Stutterheim

„Um dia na rampa“ – 1960, Dokumentarfilm, 16 mm, 10 min.

Dieser kurze Film entstand als einer der ersten in der Zeit des „Cinema novo“, die das neue kulturelle Selbstverständnis Brasiliens und insbesondere der Filmemacher, zum Ausdruck bringt. Dieses sollte zu einer visuellen Dekolonisation des Landes wie des Blickes führen.

Ein Schwenk von der Oberstadt, den berühmten Elevator Lacerda herunter zum Hafen und dem etwas vorgelagerten Forte São Marcelo gibt dem Film seinen Auftakt. Dem Publikum wird ein erster Blick auf den Hafen und das ihn umgebende Handelsviertel, das heutigen Comércio, gegeben. Begleitet von einem Bermibau-Spieler laufen die Titel. Mit dem Umschnitt, herunter in die Hafenbucht, wechselt die Musik in zeitgenössische Bossa-Nova-Melodien, beides wechselt sich im Laufe des Films immer wieder ab, was zu einer organischen Stimmung verschmilzt, den Rhythmus der Beobachtungen, der Montage, der gezeigten Situationen entspricht, ohne diese zu überschreiben.

Der Film ist schwarz-weiß gedreht, die Kontraste werden durch die Sonnenstrahlen auf den vielen weißen Hemden, Hüten oder Segeln häfig noch verstärkt. Der mittlerweile klassisch zu nennenden Ästhetik der Städtefilme folgend, hier erkennbar insbesondere Dziga Vertovs „Der Mann mit der Kamera“ (1929), werden wir auf einen beobachtenden Streifzug entlang der Rampa mitgenommen. Rampa bezeichnet hier die Hafenstraße, die vom Hafen durch die Unterstadt läuft und in die Oberstadt führt. Hier sind die Händler mit ihren Waren unterwegs. Einige Tragen Pakete auf dem Kopf, andere sind mit Pferdekutschen unterwegs. Parallel dazu das geschäftige Treiben auf dem Wasser – Fischerboote und Freizeitsegler. Ähnlich der Situation in Griersons „Drifters“ (1929) lassen uns die Filmemacher die letzte Strecke der Boote begleiten, das Einholen der Segel, das Anlegen und Ausladen. Fischerboote kehren von ihrem Fang zurück, legen an, aber auch viele Boote mit Obst und Gemüse. Ein Händler baut seine Waage auf. Die Baraca da Flora da Rampa bereitet sich auf die Kunden vor.

Jeden Morgen werden aus dem Gebiet nördlich Salvadors frisches Obst und Gemüse über die Bucht in die Stadt gebracht. Körbe voller Bananen, Kürbisse oder Eier, Tomaten, Salate werden auf den Köpfen über die Boote in die Stände an der Rampe gebracht. Mit der Bahn oder Autos kommen die Käuferinnen. Traditionell gekleidete Bahianerinnen ebenso wie im Stil der Zeit gekleidete Brasilianerinnen werden beim Einkauf beobachtet. Händler verschiedenen Alters werben mit unterschiedlichen Mitteln um ihre Kundinnen. Man meint das Rufen einiger von ihnen zu hören – obwohl der Film vollständig nur mit Musik begleitet wird und auf O-Töne komplett verzichtet. Die Frauen tragen ihre vollen Taschen zum Auto oder zur Bahn. Der nächste Abschnitt widmet sich dem Essen – eine junge Frau facht ein Feuer auf einem Kessel an, Männer sitzen auf ihren Booten und Essen, anschließend sieht man eine Männerkette sich einander Bananenstauden über die Boote  hinweg zuwerfen, die dann als Maiskolben auf einen Berg auf dem Steg regnen. Bananen werden auf einen Laster geladen, Säcke und Fässer von Booten auf Laster verladen. Es folgt wieder eine Sequenz der Entspannung: ein Mann erfrischt sich mit einem Glas frischen Getränks; eine Gruppe Musiker spielt auf traditionellen Instrumenten, zentral die Berimbau, dazu tanzen junge Männer Capoeira, den traditionellen Kampftanz Bahias, der aus der Sklaverei hervorgegangen ist. Andere spielen mit Bierdeckeln auf einem handbemalten Brett Mühle. Ein Paar wird beobachtet – zunächst steht eine junge Frau in einem hellen Sommerkleid noch auf dem Steg, redet mit einem der Bootsleute. Dann schlendern sie einander umarmend auf dem Boot, um in der Kajüte zu verschwinden.

Der Tag neigt sich dem Abend zu, die Segel werden gehisst, abgelegt und die Boote segeln in Richtung Forte Monte Serrat auf der Halbinsel Itapagipe herum gen Norden. Mulis tragen Säcke mit Waren, schwarze Bohnen vielleicht, die Rampe hoch; ein Mann mit geschultertem leeren Korb schaut auf die Bucht hinaus, auf den Sonnenuntergang. So zeichnet dieser kurze dokumentarische Film auf poetische Weise einen Tag am Hafen nach. In Bildern, die vor allem einen Eindruck von der Arbeit, dem Rhythmus und dem Zusammenspiel des Hafenalltags geben, wird eine atmosphärisch dichte und gleichzeitig offen erzählte Filmnarration geschaffen. Der Film ist von einem genauen Blick und einer Kenntnis des Geschehens geprägt. Er zeigt soziale Gegensätze und vor allem die Anstrengungen, aber auch den Stolz der Bootsleute und Händler_innen auf ihre Arbeit. Und es ist ein Zeitdokument. Dieser kurze Film vermittelt auch oder vielleicht gerade wegen seiner poetischen Umsetzung einen Eindruck von dem Leben und dem Lebensgefühl, von dem Zusammentreffen von Stadt und Land an einem damals zentralen Ort der Stadt Salvador. Konsequent im Sinne der selbstbewussten Darstellung des Brasiliens ihrer Zeit beziehen sich die Filmemacher auf die Ästhetik und narrativen Techniken Vertovs. Man kann auch annehmen, dass das poetische dokumentarische Kino Jerzy Bossaks, der zu dieser Zeit viele Filmemacher_innen inspiriert hat, für die Gestaltung nicht ohne Einfluss war. Beide eignen sich hervorragend, Filme, die eine poetische Form eines selbstbewussten und dabei nicht unkritischen Blickes auf Lebenszusammenhänge zu drehen.

Regie und Montage: Luiz Paulino dos Santos

Produktion: E.R. Fonseca e Primo Carbonari

Produzent: Marinaldo Nunes

Kamera: Waldemar Lima, Marinaldo da Costa Nunes, David da Costa Nunes

Musik: Berimbau und Bughalo

Zitat des Monats – Theodor W. Adorno

„Kunst vermag einzig noch durch konsequente Arbeitsteilung hindurch ihre humane Allgemeinheit irgend zu realisieren. Alles andere ist falsches Bewusstsein. Gebilde von Qualität sind, als in sich durchgeformt, objektiv weniger chaotisch als ungezählte mit ordentlicher Fassade, die ihnen notdürftig aufgeklatscht ist, während ihre eigene Gestalt darunter zerbröckelt. Das stört wenige. Tief neigt der bürgerliche Charakter dazu, wider bessere Einsicht am Schlechten festzuhalten; ein Grundbestand von Ideologie ist es, daß sie nie ganz geglaubt wird, von Selbstverachtung schreitet sie zur Selbstzerstörung fort. Das halbgebildete Bewußtsein beharrt auf dem ›Mir gefällt es‹, zynisch-verlegen darüber lächelnd, daß der Kulturschund eigens fabriziert wird, um den Konsumenten hinters Licht zu führen: Kunst soll als Freizeitbeschäftigung bequem und unverbindlich sein; den Betrug nehmen sie in kauf, weil sie insgeheim ahnen, daß das Prinzip ihres eigenen Realismus der Betrug des Gleich um Gleich ist. In solchem falschen und zugleich kunstfeindlichem Bewußtsein entfaltet sich das Fiktionsmoment der Kunst, ihr Scheincharakter in der bürgerlichen Gesellschaft: mundus vult decipi lautet ihr kategorischer Imperativ für den künstlerischen Konsum. Davon wird jegliche naive künstlerische Erfahrung mit Fäulnis überzogen; insofern ist sie unnaiv. Objektiv wird das vorherrschende Bewußtsein zu jenem verstockten Verhalten bewogen, weil die Vergesellschafteten vor dem Begriff der Mündigkeit, auch der ästhetischen, versagen müssen, den die Ordnung postuliert, welche sie als die ihre beanspruchen, und um jeden Preis festhalten. Der kritische Begriff von Gesellschaft, der den authentischen Kunstwerken ohne ihr Zutun inhärent, ist unvereinbar mit dem, was die Gesellschaft sich selbst dünken muß, um so fortzufahren, wie sie ist; das herrschende Bewußtsein kann von seiner eigenen Ideologie sich nicht befreien, ohne die gesellschaftliche Selbsterhaltung zu schädigen. Das verleiht scheinbar abseitigen ästhetischen Kontroversen ihre soziale Relevanz.“

Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt/Main 1970, S. 349/350